Leben mit dem Virus: Wir brauchen eine dynamische Strategie nach dem Lockdown

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Leben mit dem Virus: Wir brauchen eine dynamische Strategie nach dem Lockdown

2 April, 2020

Autor: Dr. Thomas Borer, Botschafter a.D.

Wir werden das Coronavirus in der Schweiz nicht ausrotten können, selbst wenn wir den Lockdown bis Ende des Jahres fortsetzen würden. Der Virus kann jederzeit wiederauftauchen oder aus dem Ausland eingeschleppt werden. Umso mehr stellt sich die Frage: Wie soll es weiter gehen? Wie finden wir einen Weg, mit dem Virus zu leben und gleichzeitig Menschenleben und wirtschaftliche Existenzen zu schützen?

Gemäss Avenir Suisse kostet jede Woche Lockdown sieben Milliarden Franken. Rund 700’000 Menschen kommen in Kurzarbeit, die Arbeitslosenzahlen steigen täglich, Zehntausenden von Selbständigen wird die Existenz genommen. Angesichts dieser Zahlen ist offensichtlich, dass der Lockdown jetzt zu einer unverhältnismässigen Massnahme wird. Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass sich die Kurve in der Schweiz langsam abzuflachen beginnt. Es leuchtet ein, dass wenn wir den Lockdown noch weiter aufrechterhalten, die sozialen und wirtschaftlichen Kosten weit höher sein könnten als die Kosten der am Coronavirus verstorbenen Personen. Dann können wir auch unser Sozial- und vor allem das Gesundheitssystem schlichtweg nicht mehr finanzieren.

In einer ersten Phase haben wir das Gesundheitssystem vor einer Überlastung erfolgreich geschützt. Nun müssen wir rasch zu einer zweiten Phase übergehen und darin gleichzeitig die Wirtschaft schützen. Es sollte unser erklärtes Ziel sein, spätestens nach dem 19. April wieder schrittweise in die Normalität zurück zu kehren. Dabei wird es nicht die perfekte und allgemein gültige Lösung geben. Gefragt ist vielmehr eine agile, dynamische, flexible und schrittweise Anpassung der Massnahmen, die auf einer detaillierten Einschätzung der Faktenlage basiert.

Die akkurate Darstellung der Situation: Repräsentative Stichprobe zur Bestimmung der Dunkelziffer

Das Problem der Dunkelziffer ist allseits bekannt. Es werden in der Schweiz wegen Mangel an Tests grösstenteils nur Risikopatienten getestet. Die entscheidende Frage ist deshalb nicht, wie viele Menschen in der Risikogruppe positiv getestet werden, sondern wie viele Menschen in der Bevölkerung infiziert sind und wie viele davon hospitalisiert werden müssen. Testet man immer nur einen ausgewählten Ausschnitt aus der Bevölkerung – die Risikogruppen – bekommt man ein völlig falsches Bild. Die Daten sind für Prognosen und Hochrechnungen nicht aussagekräftig.

Nun basieren aber allfällige Hochrechnungen und Modelle für die mögliche Überlastung des Gesundheitssystems wie auch wirtschaftliche Hilfspakete immer genau auf diesen irreleitenden Zahlen, die diese grosse unbekannte Dunkelziffer nicht abschätzen können. Deswegen unterscheiden sich die Szenarien der Wissenschaftler jeweils auch drastisch. Man kann diese «grosse Unbekannte» aber relativ unkompliziert und mit wenig Aufwand mit einer repräsentativen Stichprobe in der Bevölkerung bestimmen. Man könnte z.B. rund 10’000 Personen aus der Schweizer Bevölkerung zufällig testen (inkl. Kinder, im Idealfall inkl. Immunisierung). Das wäre etwas mehr als die aktuelle Testkapazität des Bundes für einen Tag. Die Bereitschaft der Bevölkerung zur Teilnahme wäre sicher vorhanden. Solche Messungen könnte man beispielsweise alle paar Wochen wiederholen oder noch besser über die Zeit verteilt kontinuierlich ansetzen, um ein aktuelles Bild über die tatsächliche Situation zu gewinnen und damit endlich eine solide Basis für die weitere Massnahmenplanung zu schaffen.
Dies bräuchte mehr Tests, welche seit Ausbruch der Krise jedoch rar sind. Es stellt sich die Frage, weshalb ein Land wie die Schweiz mit einer potenten Pharmaindustrie nicht in der Lage ist, die Testkapazitäten massiv hochzufahren. Um in dieser Situation Abhilfe zu schaffen, könnte der Bundesrat die Pharmafirmen beispielsweise rechtlich verpflichten, die notwendigen Tests sofort zu produzieren.

Schrittweise Lockerung der Restriktionen: Was scheint zu funktionieren und was nicht?

Die Erfahrungen zeigen, dass in Gebieten, in denen in der kritischen Zeit Grossveranstaltungen durchgeführt wurden (wie. z.B. Fussballspiele, religiöse Kundgebungen etc.) oder an Orten, wo viele Menschen auf engem Raum zusammen sind (z.B. Après-Ski Partys) die schnelle und unkontrollierte Verbreitung des Virus gefördert wurde. Derartige Events sollten daher auch bei einer Lockerung der Massnahmen weiterhin untersagt werden. Des Weiteren scheint das Social-Distancing in Kombination mit erhöhten Hygienemassnahmen die Kurve der Neuinfektionen deutlich abzuflachen. Das sollte entsprechend ebenfalls beibehalten werden. Die Bevölkerung soll sich zudem besser mit Mundschutz, Handschuhen und Desinfektionsmittel schützen können. Warum ist auch nach fünf Wochen nicht ausreichend Schutzausrüstung für die ganze Bevölkerung erhältlich? In Deutschland produzieren Schnapsbrennereinen Desinfektionsmittel, in Frankreich springen Parfümhersteller ein. In den USA stellen Autobauer Beatmungsmaschinen her. Warum schafft es ein innovatives Land wie die Schweiz nicht, deutlich weniger komplexe Schutzmittel, wie z.B. Mundschutzmasken herzustellen? Auch hier müsste der Bundesrat über Zwangsanordnungen nachdenken.

Sofern die strikte Einhaltung dieser Massnahmen gewährleistet ist, können auch alle Läden, Restaurants und Unternehmen schrittweise wieder öffnen. Ebenso können die Schulen wieder geöffnet werden, um unseren Kindern nicht noch mehr Schaden zuzu-fügen. Die Schweiz kann sich am selbstverantwortlichen Social-Distancing nach dem Modell Schwedens ausrichten.
Die Lockerung der schrittweisen Restriktionen könnte im Fall einer erneuten Ver-schlimmerung der Lage wieder aufgehoben werden. Wir befürworten z. B. auch ein temporäres, anonymisiertes Tracking über Telefondaten, denn dieser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ist weit weniger stark, als für die Bürger Hausarrest anzuordnen.

Für Risikogruppen sollen weiterhin verschärfte Verhaltensempfehlung gelten.

Was müsste der Bundesrat konkret machen?

Um eine weitere Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation zu verhindern und gleichzeitig den grösstmöglichen Schutz unseres Gesundheitssystems zu gewährleisten, wäre es wünschenswert, dass der Bundesrat möglichst bald entsprechende Massnahmen einleitet.

  1. Schrittweise Lockerung der Restriktionen und dynamische Anpassung der Massnahmen: Im 2-3 Wochenmodus. Risikogruppen folgen weiterhin verschärften Empfehlungen
  2. Schutz- und Hygienemassnahmen erhöhen und grossflächige Tests: Anordnung, Herstellung und Verteilung von Schutzmassnahmen wie Masken, Handschuhen, Desinfektionsmittel
  3. Bestimmung der Dunkelziffer: Aussagekräftige Basis der aktuellen Situation und Entwicklung der Corona Ausbreitung für Planung und laufende Justierung der Massnahmen über repräsentative Stichproben schaffen. Damit auch Anordnung der Erhöhung der Testkapazitäten (Pharmaindustrie)

Solidarität bezieht sich nicht nur auf einzelne Risikogruppen, sondern gilt für die ganze Gesellschaft. Solidarität verdient nicht nur die Risikogruppe unserer Grosseltern, sondern auch die Friseuse, der Restaurant-Besitzer, das Gewerbe, der Schüler. Diese Solidarität ist gegenseitig. Dies erfordert eine hohe Flexibilität in der ganzen Bevölkerung und die dynamische Anpassung der Massnahmen gemäss den aktuellen Gegebenheiten. Nur dadurch kann eine gesundheitliche und eine wirtschaftliche Katastrophe verhindert werden.

 

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