Europa ist ein Kontinent der Vielfalt, mit einer langen Geschichte von Kriegen und einem spektakulären Friedensprojekt. Europa ist die Heimat vieler Nationen, vieler Kulturen und Meinungen. Europa ist Toleranz, und dazu gehört auch die Toleranz, andere Meinungen zuzulassen.
Die neue Realität
Diese Woche war ich bei einem Politpodium zum Thema „Europa in Aufruhr“ eingeladen, zusammen mit unter anderem einer Bundestagsabgeordneten der AfD. Leider musste ich feststellen, dass die Meinungsfreiheit für einige junge Studenten nicht den gleichen Wert hat wie für mich. Als die AfD-Abgeordnete das Wort zum ersten Mal ergriff, wurde das Panel von Demonstranten durch Protestparolen, Flugblätter und erhobenen Mittelfingern gestört. Die AfD vertritt sehr viele zweifelhafte Positionen, an denen auch ich mich stosse und hat Personen in der Partei, die extremistische Positionen vertreten. Jedoch ist es Realität, dass die AfD mit 90 Abgeordneten Teil des deutschen Bundestages ist. Auch dieses Abstimmungsverhalten eines Teils der Deutschen ist zu respektieren. Ein Volksentscheid zählt eben nicht nur dann, wenn ein spektakulärer, dynamischer und visionärer Emmanuel Macron eine Wahl gewinnt, sondern auch wenn eine unliebsame Partei Stimmen erhält. Die Diskussionsverweigerung erscheint mir da weder zielführend noch vereinbar mit unserer Diskussionskultur und dem Wettbewerb der Argumente. Sie ist zu tiefst undemokratisch.
Die Opferrolle kann man Parteien wie der AfD nur nehmen, indem man in mit ihnen eine harte, aber faire Debatte führt. Erhobene Mittelfinger und Niederschreien sind unserem Verständnis der Debatte nicht würdig. Kommt hinzu, dass diese Woche an der Zürcher Universität bereits eine Rede von General Petraeus abgesagt werden musste, weil linke Chaoten Drohungen ausgesprochen haben. Was sind denn das für Zustände?
Die Diskussionskultur
Wir hören offensichtlich nicht gerne zu: Oder wir hören nur gerne uns selber sprechen und diejenigen, die unsere Meinung vertreten. Aber wir gehen nicht gerne auf die Argumente der Gegenseite ein. Dabei müssen wir das, sonst können wir ihnen nicht aufzeigen, wo sie falsch liegen. Lieber bleiben wir auf unserem hohen Thron der Moral sitzen und kanzeln andere ab. Und dann wundern wir uns, wieso es soweit kommen konnte, dass die AfD über 10% der Stimmen gemacht hat und die klassischen Parteien so viel verloren haben. Einige Bürger haben das Vertrauen in die Politik verloren, sehen sich als Opfer der Entwicklungen und geben der aktuellen Regierung die Schuld daran. Radikale Parteien springen auf diesen Zug auf.
Wenn im US-Fernsehen ein William F. Buckley Jr. mit den Black Panthers, der Frauenrechtsbewegung oder mit Nixon diskutierte konnten die Positionen oft nicht gegenseitiger sein – aber es wurde mit spitzer Zunge und mit scharfer Klinge debattiert, argumentiert und Positionen gefestigt. Dasselbe gilt für einen Noam Chomsky, welcher bis heute den Diskurs nicht scheut und uns immer wieder eindrücklich aufzeigt, wo wir falsch liegen könnten. Und sogar Strauss und Wehner haben sich fair und mit Respekt duelliert – obwohl sie Welten voneinander entfernt waren.
Wie John Dewey, ein grosser liberaler Denker, richtig erkannte, kann ohne moralische Richtlinien keine soziale Ordnung geschaffen werden. Ohne Verständnis, aus welchen Komponenten der Gesellschaft ein Staat zusammensetzt, kann keine liberale Ordnung entstehen. Dieses Verständnis gilt auch für die, welche unsere moralischen Richtlinien in Frage stellen. Europa bedeutet Vielfalt, so auch Vielfalt der Meinungen und Positionen. Toleranz heisst, dass wir auch da tolerant sind, wo es weh tut. Dadurch wird die Demokratie gestärkt, nicht durch Niederschreien und Drohungen.